02.11.2018 07:50 Warum die "russische Aggression im Baltikum" ein
Hirngespinst ist
Zum ersten Mal in der Geschichte sind die baltischen Staaten vollkommen
unabhängig von Russland - einfach, weil Russland weder pragmatische noch
romantische Interessen in dieser Region hat. Dem Westen bangt dennoch vor einer
möglichen "russischen Aggression". [Quelle:
RT Deutsch / von Dmitri Kondraschow] JWD
Quelle: RT-Deutsch | veröffentlicht
21.06.2017
"Gegen russische Bedrohung" -
NATO-Manöver Saber Strike im Baltikum
Mit dem Manöver
Saber Strike trainiert die NATO ihre frisch ins Baltikum verlegten
Truppen gegen eine herbeihalluzinierte russische Bedrohung. (zum
Originaltext ..hier)
(Fortsetzung RT Deutsch/Dmitri Kondraschow)
Der Glaube an eine unumgängliche hybride Aggression Russlands gegen die
baltischen Staaten - Estland, Lettland und Litauen - gehört zu den fundamentalen
Prinzipien der Außen- und Verteidigungspolitik der EU und der NATO. Das
Besondere an dieser Erscheinung liegt darin, dass es sinnlos ist, diesen Glauben
zu erörtern oder zu analysieren. Europäern beweisen zu wollen, dass Russland
nicht vorhat, diese Länder anzugreifen, hat genauso viel Aussicht auf Erfolg wie
es das Vorhaben gehabt hätte, Martin Luther davon zu überzeugen, dass seine 95
Thesen fehlerhaft sind. Deshalb werden wir diesen Glauben nicht widerlegen,
sondern nur dessen Realitätsbezogenheit prüfen, indem wir folgende Frage
stellen: "Welchen Nutzen könnte Russland davon haben, die baltischen Staaten
wieder in sein Wirkungsgebiet zu rücken?"
Nichts Persönliches, alles rein geschäftlich
US-Generalstabschef Mark Milley (Mitte) fordert zusätzliche US-Truppen in
Europa, noch bevor gar größere Entscheidungen dahingehend seitens der Regierung
getroffen werden.
Erinnern wir uns daran, dass das Baltikum bereits drei Mal unter dem Einfluss
Russlands stand. Noch im tiefen Mittelalter waren große Gebiete Litauens und
Lettlands Teil des Fürstentums Polozk und das von Russland kontrollierte Gebiet
erstreckte sich fast bis zum heutigen Riga. Ein großer Teil Estlands dagegen war
von der Republik Nowgorod abhängig. Der Nutzen aus der Kontrolle dieser Länder
lag darin, dass der Seehandelsweg abgesichert war, der zu slawischen
Fürstentümern auf dem Gebiet des heutigen Norddeutschlands führte, zu denen das
altrussische Reich weitgehende wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen hatte.
Doch nach dem Fall der slawischen Fürstentümer übernahm der Hansebund die
Gewährleistung der Seehandelssicherheit. Deshalb verloren russische Fürsten
immer mehr das Interesse an der Küste der südöstlichen Ostsee. Litauen rückte in
das Wirkungsgebiet Polens - Lettland und Estland kamen unter den Einfluss
Deutschlands, ohne dass Russland sonderlich Widerstand geleistet hätte. Abseits
steht hier die Episode mit dem für Russland erfolglosen Livländischen Krieg, als
Iwan der Schreckliche wegen der veränderten Marktkonjunktur Häfen an der Ostsee
brauchte, um den Warenverkehr mit England zu steigern.
Die zweite Periode, in der die südöstliche Ostsee zu Russland gehörte, begann
mit dem Großen Nordischen Krieg, den Russland, Dänemark, Sachsen und Polen - das
von Sachsens König, August dem Starken, regiert wurde - gegen Schweden führten,
das die Ostsee als sein Binnenmeer sah. Allerdings kann man den damaligen
Aneignungsprozess des Baltikums durch Russland nicht als Eroberung oder
aggressives Vorgehen bezeichnen. Viel eher war das ein Befreiungskrieg des
deutschen Adels und der Bürger gegen die schwedische Armee, dessen Erfolg auch
auf den Zusammenschluss des livländischen Adels mit der russischen Krone
zurückzuführen ist.
Der russische Zar garantierte seinen deutschen Untergebenen Glaubensfreiheit,
den Erhalt ihrer Sprache und ihrer Kultur und ein hohes Maß an Selbstbestimmung,
Russland hingegen konnte seinerseits ihre Talente nutzen. So kam es dazu, dass
viele Seiten der Geschichte über die glorreichen Zeiten Russlands von gebürtigen
Esten, Livländern und Kurländern geschrieben wurden, die deutsche Namen trugen
und Deutsch sprachen. Von einer großen wirtschaftlichen Bedeutung dieser
Regionen für das Russische Kaiserreich kann man allerdings nicht sprechen. Der
hauptsächliche Warenverkehr mit Europa erfolgte über den zu Zeiten des Großen
Nordischen Krieges erbauten Hafen in Sankt Petersburg, das zur Hauptstadt des
Russischen Kaiserreichs geworden war.
Screenshot | Quelle: KrastoApsauga via Youtube |
veröffentlicht 25.08.2017
Frank Walter Steinmeier besucht die deutschen Truppen
in Litauen
Russland, Litauen, Lettland und Estland in einem Boot
Dieser Geschichtsexkurs war notwendig, um zu zeigen, dass Russlands Interessen
in der baltischen Region sowohl im Mittelalter als auch in der Epoche des
Russischen Kaiserreichs stets rational und pragmatisch waren.
Von diesem Rationalismus hat sich Russland auch nicht abgewandt, als Litauen,
Lettland und Estland zum zweiten Mal auf der Weltkarte erschienen. Mit dem
Ausbau des Eisenbahnnetzes in der späteren Periode des Russischen Kaiserreichs
und besonders zu Zeiten der UdSSR stieg die wirtschaftliche Bedeutung der
Ostseehäfen schlagartig an. Die südöstliche Ostsee wurde zum
Haupttransportknotenpunkt der UdSSR. Über die Häfen in Riga, Ventspils, Klaipeda
und Tallinn beförderte man Öl und andere Rohstoffe aus Russland und aus den
westlichen Ländern trafen Lebensmittel, Korn, Kakaobohnen und andere Konsumgüter
ein. Diese Logistik hat auch das unabhängige Russland geerbt.
Doch auch Litauen, Lettland und Estland befanden sich wegen des sowjetischen
infrastrukturellen Erbes in einer Abhängigkeit von Russland. Sowohl alle
Energieträger als auch der Strom in dieser Region kamen ausschließlich aus
Russland.
Deshalb hatte Russland seit dem Moment des Zerfalls der UdSSR ein natürliches
Interesse am Energieträgermarkt, an der Eisenbahninfrastruktur und an den Häfen
im Baltikum gezeigt. Bereits in den 1990er Jahren arbeiteten in der Region
Strukturen russischer Großunternehmer wie Michail Chodorkowski, dem ein
Erdölverarbeitungswerk in Litauen und eine Reihe von infrastrukturellen Objekten
in Estland gehörten, die zuvor von der sowjetischen Armee benutzt worden waren.
Übrigens haben damals die Regierenden in Estland und Litauen Chodorkowskis
Investitionen als eine von Russland ausgehende Gefahr für die nationale
Sicherheit empfunden und beträchtliche Bemühungen in die Wege geleitet, die
nicht immer nur wirtschaftlichen Charakter trugen, um diesen zur Aufgabe seiner
Anlagen in diesen Ländern zu zwingen. Auf andere russische Geschäftsmänner, von
denen es nicht wenige gab, erstreckte sich diese Angst aber vorerst nicht.
Der Höhepunkt der russisch-baltischen wirtschaftlichen Zusammenarbeit in den
Neunzigern war die Bildung nationaler Verteiler von Erdgas in Litauen, Lettland
und Estland, die zwar natürliche Monopole darstellten, aber in das Eigentum der
russischen Gazprom und der deutschen E.ON Ruhrgas überführt wurden. Dies
ermöglichte es Gazprom und E.ON Ruhrgas, Gas direkt an die Endverbraucher zu
verkaufen und daraus Gewinn zu erzielen, was Gazprom seinerseits dazu brachte,
Gas zu günstigeren Preisen in die baltischen Staaten als beispielsweise in die
Ukraine zu liefern.
Bis zum Jahr 2005 erinnerte die Beziehung zwischen Russland und den baltischen
Staaten an die Fabel von der Schildkröte und der Schlange, die gemeinsam einen
Fluss überquerten, obwohl sie einander nicht vertrauten. Die giftige Schlange
saß dabei auf dem Panzer der Schildkröte. Doch im letzten Jahrzehnt hat sich
diese Situation drastisch verändert.
Als Freiheit getarnte Interessenlosigkeit
Dank technischem Fortschritt ist es Russland gelungen, einen eigenen
Transportknotenpunkt in der Leningrader Region zu schaffen. Der Gesamtumfang der
Fracht, die die Häfen des Gebiets um Sankt Petersburg annehmen können,
übersteigt heute vielfach das Fassungsvermögen aller Häfen in Litauen, Lettland
und Estland zusammen. Was ebenfalls nicht unwichtig ist, ist die Tatsache, dass
russische Häfen moderner und wirtschaftlicher sind. In weniger als zehn Jahren
ist Russland nicht nur aus der Transportabhängigkeit von Litauen, Lettland und
Estland getreten.
Es hat sich vielmehr zu einem Konkurrenten gemausert, was zum Beispiel den
Transport von Fracht aus Weißrussland oder die Güterüberführung nach China
angeht. Mit der Entwicklung der Bautechnologien von Unterwasserpipelines hat
sich auch die in den Neunzigern weit verbreitete Idee, Litauen, Lettland und
Estland könnten eine Landbrücke zwischen Russland und der EU bilden, in Luft
aufgelöst. Russland und Deutschland brauchten solch eine Brücke nicht.
Doch die Situation wendete sich abermals. Die Entwicklung der Beschaffung und
der Lieferung von verflüssigtem Erdgas hat die baltischen Staaten dazu angeregt,
die Vorgaben des Dritten Energiepakets der EU freiwillig umzusetzen, obwohl sie
als isolierter Markt nicht dazu genötigt waren. In Litauen und Estland wurden
die Anlagen der Gazprom und ihrer deutschen Partner im Gastransportsystem
nationalisiert, was dazu führte, dass Gazprom ihre Monopolstellung als
Gaslieferant verlor. Russlands Reaktion hierauf kann man als lasch bezeichnen.
Man äußerte Unzufriedenheit und ging vor Gericht, kam aber schließlich allen
Forderungen nach.
Der Energiemarkt der baltischen Staaten war zwar in den Neunzigern recht
interessant gewesen, verlor aber am Anfang des 21. Jahrhunderts des schnellen
Wachstums der russischen Wirtschaft und vor allem des Energieträgerexports wegen
sowie auf Grund des damit verbundenen politischen Aufwands an Attraktivität.
Abgesehen davon ist das verflüssigte Erdgas, das auf den baltischen Markt
geliefert wird, bis heute teurer als das russische Gas, so dass Gazprom
weiterhin einen großen Marktanteil besitzt, obwohl sie einen Teil ihrer
Einnahmen verloren hat.
Wir müssen also konstatieren, dass das heutige Russland keine fundamentalen
wirtschaftlichen Interessen in den baltischen Ländern hat und diese in der nahen
Zukunft auch nicht entwickeln kann. Darin liegt auch der Hauptunterschied
zwischen der Situation im Baltikum und jener auf der Krim oder in Syrien, wo
Russland eine aktive Kriegshaltung gezeigt hat.
Doch vielleicht interessieren die baltischen Staaten Russland wegen möglicher
militärischer Strategieerwägungen? Natürlich hatte Russland mit Unzufriedenheit
auf den NATO-Beitritt Litauens, Lettlands und Estlands reagiert. Noch größere
Unzufriedenheit rief die Stationierung von NATO-Truppen in der Region hervor. In
der Tat machen diese Handlungen Russland bestimmte Probleme, zeugen aber eher
von der angespannten Beziehung zwischen Russland und den NATO-Staaten anstatt
eine reale Gefahr darzustellen. Anders als zu Zeiten des Deutsch-Sowjetischen
Nichtangriffspakts hat das heutige Russland eine starke Kriegstruppe in der
Kaliningrader Exklave, die es unmöglich macht, die südöstliche Ostsee als
Angriffspunkt gegen Russland zu nutzen.
Für Russland stellt der Besitz der südöstlichen Ostseeküste seinerseits
ebenfalls keinen militärisch-strategischen Wert dar. Einerseits ist es
schwierig, diese Region zu verteidigen, andererseits ist es im Fall eines
hypothetischen NATO-Angriffs unmöglich, diese als Ausgangspunkt einer
Angriffsstrategie zu nutzen, da sie von der Ostsee, den russischen Leningrader
und Kaliningrader Regionen und Weißrussland, einem Kriegsverbündeten Russlands,
umzingelt ist. Deshalb ist die objektive kriegsstrategische Bedeutung dieser
Region für Russland, genauso wie die wirtschaftliche, mehr als gering. Vor
allem, wenn man bedenkt, dass es in Russland allen klar ist, dass der Großteil
der Bevölkerung dieser Länder russische Soldaten nicht mit offenen Armen
empfangen würde.
Russlands imperiale Ambitionen: Mythen und Wirklichkeit
Weiterhin ist der kulturhistorische Aspekt wichtig. Die südöstliche Ostsee trägt
für den Russen keinen sakralen, mythischen Charakter als Teil der Russischen
Welt. Eher umgekehrt. Historisch hat es sich so ergeben, dass dieses Gebiet als
fremdes Land empfunden wird und in der russischen Wahrnehmung eher als eine
Region unter deutschem kulturellem Einfluss figuriert. Deshalb spüren die
modernen Russen sehr viel weniger an Phantomschmerzen mit Blick auf den Verlust
dieses Gebiets als zum Beispiel Deutsche mit Blick auf den Verlust der
Ostgebiete.
Deshalb kann man behaupten, dass die baltischen Länder heute in vollem Umfang
frei von Russland sind, da Russland einfach keine Interessen in dieser Region
hat, weder pragmatische noch romantische. Das einzige, was heute das moderne
Russland mit den baltischen Staaten verbindet, sind die knapp eine Million
russischsprachiger Menschen, die nach dem Zerfall der UdSSR dortgeblieben sind,
wobei ein Großteil von diesen ihrer Bürgerrechte beraubt ist.
Ihre ungesicherte Stellung, die sich daraus ergab, dass die baltischen Staaten
das Recht auf Sprach- und Kulturerhalt nicht gewährleisteten, bereitet Russland
große Sorgen. Empörung löst auch die Tatsache hervor, dass die Politiker der
baltischen Staaten die dort lebenden Russen als eine Art fünfter Kolonne
darzustellen versuchen, damit diese als ein weiterer Beweis für die
vermeintliche russische Aggression herhalten können. Doch in Russland ist man
sich darüber einig, dass das einzige Recht, das durch Kriegshandlungen
verteidigt werden darf, das Recht auf Leben ist. Bei aller Härte der Lage der
russischen Bevölkerung Litauens, Lettlands und Estlands besteht heute keine
Gefahr für deren Leben. All ihre Probleme können durch eine humanitäre
Zusammenarbeit im Rahmen von internationalen Menschenrechtsinstitutionen gelöst
werden.
Ist derjenige selig, der glaubt?
Natürlich wird die Tatsache, dass es für Russland absolut keinen Sinn macht, in
der südöstlichen Ostsee Krieg zu führen, keinen Adepten der Theorie der
unweigerlichen Aggression Russlands in dieser Region vom Glauben abbringen. Doch
wir haben versucht, zu zeigen, dass ihr Glaube noch eine andere Seite hat: Durch
die Behauptung, eine von Russland ausgehende Aggression in den baltischen
Staaten sei überhaupt möglich, sprechen die Adepten der russischen
Aggressionstheorie dem russischen Volk das Vermögen ab, eine vernünftige,
durchdachte Geopolitik zu führen.
Ungeachtet der blanken Fakten werden die Russen bezichtigt, einen Hang zu
sinnloser, unvorhersehbarer Aggression zu haben. Vielleicht erinnert auch Sie
das an etwas Bestimmtes? Im 20. Jahrhundert hat es bereits Politiker gegeben,
die die Russen für ein minderwertiges Volk hielten. Sollte man deren Dummheiten
wiederholen?
Über den Autor: Dmitri Kondraschow, Chefredakteur der Zeitschrift "Okno w Ewropu"
(Fenster zu Europa), stammt aus einer russisch-estnischen Familie in
Tallinn (Estland), wo er bis zum Jahr 2005 lebte. Grund für seinen
Umzug nach Russland war eine "gläserne Decke" in der estnischen
Gesellschaft, die sich nach Überzeugung von Kritikern über
Fremdstämmige ausgebreitet hat.
Kondraschews Worten nach war es unmöglich, diese Decke zu
durchbrechen, ohne von seinen Überzeugungen abzutreten. Seit 2006
lebt er in Russland. Dmitri arbeitete als Publizist in einer Reihe
großer Medienunternehmen und als Chefredakteur der Zeitschrift "Baltijskij
mir" (Baltische Welt). Abgesehen von seiner journalistischen Arbeit
fungiert er auch als Berater zu russisch-europäischen Beziehungen.